Lass es schneien
In Bingbamton, New York, bedeutete Winter Schnee, und obwohl ich noch klein war, als wir wegzogen, konnte ich mich an große Mengen Schnee erinnern und dies als Beweis dafür in Anschlag bringen, dass North Carolina bestenfalls eine drittklassige Einrichtung war. Das bisschen Schnee, das dort herunterkam, war gewöhnlich ein oder zwei Stunden später bereits geschmolzen, und dann stand man da in seiner Windjacke und den wenig überzeugenden Fäustlingen und formte ein klumpiges Gebilde, das größtenteils aus Dreck bestand. Schneeneger sagten wir dazu.
In dem Winter, als ich in die fünfte Klasse ging, hatten wir allerdings Glück. Es schneite, und zum ersten Mal seit Jahren blieb der Schnee auch liegen. Die Schule fiel aus, und zwei Tage später hatten wir noch einmal Glück. Es lagen zwanzig Zentimeter Schnee, und anstatt zu tauen, bekamen wir Frost. Am fünften Tag unserer Ferien erlitt meine Mutter eine kleine Nervenkrise. Unsere Anwesenheit hatte ihr geheimes Leben durcheinander gebracht, das sie führte, während wir in der Schule waren, und als sie es nicht länger aushielt, setzte sie uns vor die Tür. Nicht mit einer freundlichen Bitte, sondern mit einem handfesten Rausschmiss. »Schert euch bloß aus meinem Haus«, sagte sie.
Wir erinnerten sie daran, dass es auch unser Haus war, woraufhin sie nur die Haustür öffnete und uns in den Carport schob. »Und wehe, es kommt einer rein!«, rief sie.
Meine Schwestern und ich gingen den Hang hinunter und fuhren mit den Kindern aus der Nachbarschaft Schlitten. Einige Stunden später kehrten wir nach Hause zurück, doch war die Tür zu unserer Überraschung immer noch verschlossen. »Also, jetzt ist aber genug«, sagten wir. Ich drückte auf die Klingel, und als niemand kam, gingen wir zum Fenster und sahen unsere Mutter in der Küche vor dem Fernseher. Normalerweise wartete sie bis fünf mit ihrem ersten Drink, allerdings war sie in den letzten Tagen davon abgerückt. Da es nicht als Alkoholtrinken zählte, wenn man auf ein Glas Wein eine Tasse Kaffee folgen ließ, hatte sie neben dem Weinglas noch einen Kaffeebecher vor sich auf der Küchentheke stehen.
»He!«, brüllten wir. »Mach die Tür auf. Wir sind’s.« Wir klopften gegen die Scheibe, doch ohne auch nur in unsere Richtung zu blicken, füllte sie ihr Glas auf und ging aus dem Zimmer.
»Die gemeine Ziege«, sagte meine Schwester Lisa. Wir hämmerten weiter gegen das Fenster, und als meine Mutter sich nicht rührte, gingen wir um das Haus herum und warfen Schneebälle gegen ihr Schlafzimmerfenster. »Wenn Daddy nach Hause kommt, gibt es richtig Ärger!«, riefen wir, woraufhin meine Mutter nur die Vorhänge zuzog.
Als es zu dämmern begann und kälter wurde, kam uns der Gedanke, dass wir erfrieren könnten. So etwas kam tatsächlich vor. Egoistische Mütter, die das Haus für sich allein wollten, und Jahre später entdeckte man ihre Kinder, steif gefroren wie Mastodons in dicken Eisklötzen.
Meine Schwester Gretchen schlug vor, unseren Vater anzurufen, doch wusste keiner von uns die Nummer, und vermutlich hätte er auch nichts unternommen. Er war vor allem deshalb zur Arbeit gegangen, um unserer Mutter zu entfliehen, und in Anbetracht der Wetterlage und ihrer Stimmung konnte es Stunden, wenn nicht gar Tage dauern, bis er nach Hause kam.
»Einer von uns müsste unters Auto kommen«, sagte ich. »Das würde ihnen beiden eine Lehre sein.« Ich stellte mir Gretchen vor, ihr Leben an einem seidenen Faden, während meine Eltern im Flur des Rex Hospitals auf und ab liefen und sich wünschten, sie wären fürsorglicher gewesen. Es war tatsächlich die perfekte Lösung. War sie erst aus dem Weg, würden wir anderen wertvoller erscheinen und hätten außerdem mehr Platz im Haus. »Gretchen, leg dich auf die Straße.«
»Amy soll sich hinlegen«, sagte sie.
Amy wiederum schob es auf Tiffany, die die Jüngste war und noch keine Vorstellung vom Tod hatte. »Es ist wie schlafen«, erklärten wir ihr. »Nur dass du in einem Himmelbett schläfst.«
Die arme Tiffany. Sie hätte alles getan für ein bisschen mehr Aufmerksamkeit. Man brauchte nur Tiff zu ihr zu sagen und bekam alles, was man wollte: ihr Taschengeld, ihren Teller beim Abendessen, den Inhalt ihres Osternests. Als wir ihr sagten, sie solle sich mitten auf die Straße legen, fragte sie nur: »Wo?«
Wir suchten eine kleine Mulde zwischen zwei Straßenkuppen, an der die Autofahrer unweigerlich ins Schlittern geraten mussten. Sie nahm ihren Platz ein, ein sechsjähriges Mädchen im buttergelben Mantel, und wir anderen stellten uns an den Straßenrand und warteten. Das erste Auto, das vorbeikam, gehörte unserem Nachbarn, ein Yankee wie wir, der Schneeketten aufgezogen hatte und wenige Fuß vor unserer Schwester zum Stehen kam. »Liegt da ein Mensch auf der Straße?«, fragte er.
»So in etwa«, sagte Lisa. Sie erklärte ihm, dass man uns zu Hause ausgesperrt hatte, und obwohl der Mann dies offenbar als vernünftige Erklärung akzeptierte, bin ich mir sicher, dass er derjenige war, der uns anschwärzte.
Ein zweiter Wagen fuhr vorbei, und dann sahen wir unsere Mutter, eine keuchende Gestalt, die sich mühsam über die Hügelkuppe schob. Sie trug keine Hose, und ihre Beine versanken bis zur Hüfte im Schnee. Wir wollten sie zurück ins Haus schicken, sie aus der freien Natur verbannen, so wie sie uns zuvor aus dem Haus verbannt hatte, doch war es schwer, weiter auf jemanden wütend zu sein, der so bemitleidenswert aussah.
»Hast du etwa deine Hausschuhe an?«, fragte Lisa, und meine Mutter reckte nur einen nackten Fuß in die Luft. »Ich hatte meine Hausschuhe an«, sagte sie. »Ganz sicher, eben war er noch dran.«
So ging das immer. Erst sperrte sie uns aus unserem eigenen Haus aus, und im nächsten Moment wühlten wir alle im Schnee nach ihrem linken Schlappen. »Ach, vergesst es«, sagte sie. »Der taucht in ein paar Tagen wieder auf.« Gretchen zog ihre Mütze über den Fuß meiner Mutter. Lisa wickelte ihren Schal darum, und sie fest von allen Seiten stützend, machten wir uns auf den Weg nach Hause.